Fakten

Wir sind 849 Tage um die Welt gereist (11. Juni 2013 bis 07. Oktober 2015). Unsere letzte Station war Bangkok, Thailand.
Wir reisten 71844 Kilometer durch 26 Länder. Jetzt sind wir wieder in Deutschland und planen unsere naechste Reise.

Donnerstag, 15. Mai 2014

Das Land der unbegrenzten Unmoeglichkeiten

Fortfuehrung von Sinnesreise:

Um ueber Indien und ueber Inder schreiben zu koennen, benoetigt es eine Menge an Erklaerungen. Leider habe ich keine Ahnung, wo und womit ich anfangen und wie ich von Indien erzaehlen soll, ohne den Versuch zu unternehmen, ein bisschen Indien-Gefuehl zu erzeugen.
Vielleicht kann jemand, der „The White Tiger“ von Aravind Adiga gelesen hat, nachvollziehen, was ich meine. Fuer jene, die dieses Werk noch nicht verschlungen haben, ist dieses Buch eine deutliche Empfehlung, wenn man sich mit Indien beschaeftigen moechte. Und ich bin mir noch nicht mal sicher, ob dieses tolle Buch ausreicht, um das von mir angestrebte Indien-Gefuehl in euch zu wecken.
Eigentlich waere es fuer jeden Leser hilfreich, nur fuer einen Tag in eine beliebige, mittelgrosse, indische Stadt zu reisen, als hinreichende Vorbereitung auf das, was man hier taeglich erlebt.

Es koennte an einem beliebigen Nachmittag zum Beispiel so aussehen:
Ein Gruppe Maenner. Herumstehende, baeuchige, schautzbaertige, Maenner, einige halten Haendchen, Andere legen ihren Arm auf die Schultern ihres Freundes, wieder andere haben die Arme hinter dem Ruecken verschraenkt und stehen vor einer Rickshaw, einige wild gestikulierend, andere, einander uebertoenend, artikulierend. Einer von ihnen spuckt einen grossen roten Fladen aus – Betel, also Pan. Ein anderer holt Spucke aus seiner Speiseroehre nach oben, um sie nach mehreren geraeuschvollen Versuchen neben den Betel-Fleck zu platzieren. Ein anderer Inder popelt, kratzt sich dann im Ohr und geht sich durch die Haare, bevor er sich im Schritt ordnet. Ein weiterer von ihnen schuettelt immer wieder seinen Kopf, einer Acht folgend – eine Bewegung die wohl nur die Inder “fehlerfrei“ vollziehen koennen.

An den Maennern laeuft ein deutsches Paerchen mit grossen Rucksaecken vorbei. Die Koepfe drehen sich den Touristen folgend mit. Der Rickshaw-Fahrer ruft ueberhoehte Preise hinter ihnen her, die Touristen lehnen dankend ab. Einige von den Maennern beginnen zu kichern. Sie gestikulieren, wie seltsam sie den Auslaender mit dem Ring in der Nase und den Ohrringen finden, in dem sie sich selbst an den gleichen Stellen anfassen. Und dann diese Haare! – Was tun? Genau! Ein Foto. „One picture?“ fragen sie die Touristen.
Heute sind sie gut gelaunt, deshalb sagen die zwei Rucksackreisenden ja. Die zehn Maenner holen zehn Smartphones hervor, und jeder von ihnen beginnt, ein Foto zu machen. Als nach minutenlangem Grinsen das Gesicht anfaengt, weh zu tun, sind noch immer nicht alle Inder auf einem Foto mit den Touristen gewesen. Sie werden dieses Foto allen ihren Freunden zeigen, ihrer Familie praesentieren und die Geschichte dazu erzaehlen. Die Informationen, die sie von den Reisenden erfahren wollen, sind zum Beispiel diese: 
Where (are you) from, Sir? What is your good name? Your wife? What is your age? What is your profession? What is your religion? Do you speak Hindi? Germany, aaah, Germany!”.  
Nachdem die Reisenden acht verschiedenen Maennern die gleiche Antwort gegeben haben, verabschieden sie sich, mit Handschlag von jedem einzelnen.
Als sie weiter laufen, erreichen sie Schmuck- und Klamotten-Geschaefte. Bevor sie irgendetwas sagen koennen, werden sie mit den Worten begruesst: 
„Yes? Very cheap, very good price, looking for free. Please come sir, inside more colour! How much you give? Best price? What you like? Please Madam! Some shirt, shorts, necklace,…”
– Die Reisenden mit den Rucksaecken moechten aber nichts kaufen. Als sie an einem kleinen Laden Wasser kaufen wollen, fragen sie nach dem Preis. Der Ladenbesitzer ueberlegt – zu lang, fuer einen Fachmann – und sagt dann: Fuenfunddreissig Rupien. – die Reisenden haben aber schon gelernt, auf den aufgedruckten Preis zu schauen. – „It is twenty eight, sir“ – „Thirty five“. – „No, look, the price is here!“ – „Ok, thirty!“ (headwobble) – „I give you twenty eight!“ – „Two rupees cooling charge!“ – Widerwillig geben die Touristen dem Mann dreissig Rupien.
Als sie weiter in Richtung Strand laufen, kommen weitere Rickshaws vorbei, versuchen die Reisenden zu ueberreden, bei ihm mitzufahren. Ein Mann schneidet den zwei Weissen den Weg ab: „Looking for room? How much you give? Very good price! A/C, Non A/C? How long you stay?” – Die Reisenden erklaeren ihm, dass sie schon eine Unterkunft gefunden haben.
Sie laufen an einem Tempel vorbei, vor dem ein weisshaariger Sadhu sitzt und laechelt. Die zwei Reisenden laecheln zurueck und gruessen ihn. Er gruesst zurueck. Eine schoene Begegnung.
Als sie am Strand ankommen, sehen sie ueberall Inder in grossen Gruppen am Wasser stehen. Einige von ihnen baden mit Klamotten im Meer, rollen sich ueber den Sand in die Wellen, schreien und jubeln. Die Maenner stehen wieder mit den Haenden hinter dem Ruecken verschraenkt oder den Armen in den Seiten und schauen den anderen zu. Andere bewerfen sich mit Sand oder buddeln sich gegenseitig ein. Die Frauen rennen einander hinterher, in nassen Saris. Andere indische Touristen klettern auf einen ein Meter hohen Felsen am Strand, vor dem Meer. Sie fotografieren sich mehrfach gegenseitig in seltsamen Posen und zeigen sich anschliessend die Fotos.
Im Restaurant am Strand bestellen indische Touristen Essen, Thali – Reis mit Dal (Linsen), Cocos-Chutney, Gemuese-Curry und indisches Chapati-Brot. Sie mixen die Saucen mithilfe ihrer rechten Hand mit dem Reis und formen einen Matschklumpen, den sie sich schmatzend in den Mund stecken. Sie bellen nach dem Kellner, wollen Cola trinken. Nach dem Essen ruelpsen sie laut als Zeichen dafuer, dass es ihnen gut geschmeckt hat. Sie reden sehr schnell, mischen manchmal ein paar lustig akzentuierte englische Vokabeln mit in ihre Rede und lachen. – Sie wirken zufrieden. Einfach, aber zufrieden.
Die deutschen Reisenden haben von Freunden gehoert, es gaebe ein Guest House am Strand mit Huetten fuer zweihundert Rupien.
Als sie den Rezeptionisten fragen, wie teuer es ist, sagt er: „four fifty!“ – vierhundertfuenfzig. – “No, look, my friend, our friends stayed here a few weeks ago and they said they paid two hundred for a hut!“ – “Two hundred – no possible! Four hundred last price!” – “Look, the maximum we are going to spend is two hundred fifty.” – “Ok, give me three fifty!” – “Sorry, man, that’s not in our budget. All I can give you is two fifty!” – “How many nights you stay?” – “Maybe two or three?” – “I give you room for three hundred, ok?” – Der Reisende holt zweihundertfuenfzig Rupien aus seinem Portemonnaie hervor, haelt sie dem Rezeptionisten hin und sagt: “Two hundred fifty, not more! Take it or we will go somewhere else!” – Der Inder wackelt mit seinem Kopf und sagt kleinlaut “Ok. Come!“
Ein grosses Wi-Fi-Schild ist an der Wand neben der Rezeption. Das Internet geht aber nicht. – „No working, sir! Main line problem!“
In bunte Saris gekleidete Frauen tragen, laut mitenander gackernd, Wasserkruege am Guest House vorbei.
Als es Abend wird, gewittert es. Der Regen peitscht auf das Dach, eine Kokusnuss faellt krachend auf das Blech. Das Wasser tropft aus einer Ritze im Dach, spuelt den Lehm von der Wand ab und bildet braune Pfuetzen auf dem gesamten Boden. Ausserdem faellt der Strom aus und die Reisenden sitzen im Dunklen, der Ventilator hoert auf, sich zu drehen. Es ist stickig heiss. Sie versuchen, ihre Habseligkeiten regensicher zu platzieren. Zum Schlafen legen sie sich, vom Moskito-Netz beschuetzt, ins Bett.
Ein anstrengender Tag ist neigt sich dem Ende entgegen.


– Natuerlich war das eine fiktive Situation, die aber genau so haette passiert sein koennen – absichtshalber ein kleines bisschen mit den Klischees spielend, jedoch ohne zu uebertreiben. 

Es ist gut zu wissen, dass in Indien schnell alles zu viel werden kann – besonders fuer gereizte, gestresste oder schlecht gelaunte Menschen. – Und ich bin ungewiss, ob und wie gut es beim Lesen „rueberkommt“ . 

Nun habe ich noch immer nicht erzaehlt, was wir im letzten Monat eigentlich erlebt haben...

Auf unserer fuenfzigstuendigen Zugfahrt von Jaipur nach Cochin.
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Wer wissen moechte, was wir im letzten Monat noch alles erlebt haben, kann gern eine weitere Fortsetzung lesen: (coming soon)

1 Kommentar:

  1. Ursula Konitzki18. Mai 2014 um 17:13

    Sehr schöne und anschauliche Beschreibung! Der Leser fühlt sich mitten drin im Geschehen in Indien.

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